Im Winter 1944 kehrt Attilio (Santiago Fondevila) aus dem Krieg heim in sein Bergdorf Vermiglio in der norditalienischen Provinz Trient. Er ist desertiert, wie sein Freund Pietro (Giuseppe De Domenico), der ihn auf den Schultern über die Berge getragen hat. Attilios Mutter und ihr Bruder, der örtliche Lehrer Cesare (Tommaso Ragno), lassen Pietro in der Scheune wohnen, denn solange Krieg herrscht, kann sich der Deserteur nicht auf dem Heimweg nach Sizilien machen.

Cesare und seine Frau Adele (Roberta Rovelli) haben viele Kinder. Das jüngste Kind stirbt an Keuchhusten. Die älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi), die nicht mehr zur Schule geht, verliebt sich in Pietro. Sie schlägt vor, zu heiraten, damit sie sich lieben können und er stimmt gerne zu. Cesare hat nichts dagegen, obwohl Pietro als Fremder und Deserteur im Dorf nicht gut angesehen ist. Es gibt eine feierliche Hochzeit und bald geht auch der Krieg zu Ende. Nun drängen die Dorfbewohner Pietro, seine Eltern in Sizilien zu besuchen. Pietro verabschiedet sich von der hochschwangeren Lucia, will aber bald zurückkehren. Die Tage vergehen und Lucia wartet auf einen Brief ihres Mannes.

  • Originaltitel: „Vermiglio“
  • Regie: Maura Delpero
  • Drehbuch: Maura Delpero
  • Darsteller*innen: Martina Scrinzi, Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Roberta Rovelli, Orietta Notari, Anna Thaler, Carlotta Gamba
  • Genre: Drama
  • Produktionsland: Italien, Frankreich, Belgien
  • Produktionsjahr: 2024
  • Länge: 119 Minuten
  • Kinostart: 24.07.2025

Das Schicksal der Frauen

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Aus Italien kommen in letzter Zeit vermehrt Filme, welche die unrühmliche Geschichte der gesellschaftlichen Stellung der Frau aufarbeiten. „Morgen ist auch noch ein Tag“ und „Primadonna – Das Mädchen von morgen“ zählen dazu. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Maura Delpero bettet ihr Drama über eine junge Liebe in die epische Schilderung des Lebens in einem Trentiner Bergdorf Mitte der 1940er Jahre ein. Frauen sind dazu bestimmt, zu heiraten und Kinder zu gebären. Während seine Frau Adele nicht mehr weiß, wie sie die ständig wachsende Kinderschar ernähren soll, kauft sich der Lehrer Cesare Schallplatten. Diese nennt er „Nahrung für die Seele“. „Vermiglio“ erhielt den Grand Jury Preis auf dem Filmfest von Venedig 2024 und räumte sieben Auszeichnungen bei den Italienischen Filmpreisen 2025 ab – so bekam Maura Delpero auch als erste Frau den Preis für die beste Regie.

Cesare spielt die Musik Vivaldis den Kindern im Unterricht vor, um sie für Kunst zu begeistern. Der Pädagoge hat fortschrittliche Ideen, hält nichts vom Krieg, verteidigt den Deserteur Pietro vor der Dorfgemeinschaft und bringt auch Erwachsenen das Lesen bei. Aber über das Schicksal seiner Familie bestimmt er allein und wenn er entscheidet, welche seiner Kinder von der Schule abgehen müssen, hat das viel mit seiner jeweiligen väterlichen Zu- oder Abneigung zu tun. Lucia, der Ältesten, blieb die höhere Schule bereits verwehrt. Als Pietro um die Hand dieser Tochter anhält, ist Cesare vielleicht ganz froh, denn junge Männer gibt es gerade nicht im Dorf und wer weiß, wie viele aus dem Krieg zurückkehren werden.

Was sich die Kinder erzählen

Die romantische Liebe von Lucia und Pietro kommt ohne viel Worte aus. Die Regisseurin verfolgt stets auch den Alltag der ganzen Familie Cesares, die vorlauten Fragen eines kleinen Sohnes, die Missbilligung, die der Lehrer seinem ältesten Sohn Dino zeigt, der kein guter Schüler ist. In dem etwas abseits des Dorfes gelegenen Haus am Berghang teilen sich mehrere Personen nicht nur jeweils ein Zimmer, sondern auch eines der Betten darin. Lucia liegt neben ihren Schwestern Ada und Flavia, die regen Anteil an ihrer Romanze nehmen und sie tuschelnd kommentieren. Wie die Kinder der Familie alles, was geschieht, miteinander bereden und sich ihren eigenen, oft auf altkluge Weise zutreffenden Reim darauf machen, verleiht der Geschichte erfrischende Komik, die auch sehr authentisch wirkt.

Ada kann mit ihrer erwachenden Sexualität nicht gut umgehen, sie legt sich wegen verbotener Lustgefühle und dem heimlichen Betrachten eines Albums mit Fotografien nackter Tänzerinnen schlimme Bußhandlungen auf. Als Flavia ihre Periode bekommt, wagt sie es kaum, sich den Eltern anzuvertrauen. Der Lehrer wollte das Dorf aus dem Analphabetismus in eine bessere Zukunft führen. Nun kündigt sich eine neue Epoche an und er wird von ihr kalt erwischt. Die Menschen und die alte Ordnung passen nicht mehr zusammen. Die Dinge fügen sich nicht wie gewünscht – nicht für Lucia, nicht für Ada und letztlich auch nicht für den Patriarchen selbst.

Sinnliches, authentisches Zeitporträt

Ein mit solcher Sorgfalt und Ruhe erzähltes Epochenporträt braucht die große Kinoleinwand. Maura Delpero taucht sehr sinnlich in die von den Jahreszeiten und der Kargheit geprägte Atmosphäre ein. Auch im Winter wird die Wäsche draußen, mit eiskaltem Brunnenwasser, gewaschen, drinnen sorgen Kerzen und eine Petroleumlampe für Licht. Im Sommer hört man die Zikaden. Im Dezember, zum Fest der Heiligen Luzia, wird im Dorf gesungen und getanzt, ebenso zur Hochzeit im Grünen. Den Dialekt der Einheimischen, ihre Lieder bekommt man auf unverfälscht wirkende Weise zu hören. Der Regisseurin gelingt das Kunststück, dieses Dorf- und Familienleben mit all seinen verschiedenen Charakteren zu würdigen und zugleich aufmerksam zu beobachten, wie sehr die Liebe zum biologischen Nachteil der Frauen gerät. Während die Mutter wieder ein neues Baby stillt, werden ihre Töchter nach eigenen Wegen jenseits der sozialen Enge des Dorfs suchen müssen.

Vermiglio
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